Gesichter... (2)
An einer anderen Stelle, blickt von einem Balkon der ersten Etage eines Hochhauses eine junge Frau herunter. Als sie erkennt, daß ein Drehorgelspieler vor
ihrem Balkon steht, geht sie freudig erregt ins Zimmer zurück. Ein oft erlebter Moment: sie geht an ihr Portemonnaie, wird ein Geldstück einwickeln um es mir
herunterzuwerfen.
Nach einer Weile kommt sie mit einer Katze auf dem Arm auf den Balkon zurück. Sie zeigt auf mich. Die Katze soll sich den Drehorgelspieler dort unten ansehen.
Auch die Katze soll sich über den seltenen Leierkastenmann freuen; sie will ihre Freude mit der Katze teilen.
Dabei ist der Katze so ein Leierkastenmann mit Sicherheit völlig egal. Womöglich mag sie meine Drehorgelmusik sogar überhaupt nicht. Aber während die junge
Frau sich dort oben so liebevoll um ihre Katze bemüht und ihr ihre eigene Freude übermitteln will, erschrecke ich doch über dieses Verhalten.
Plötzlich erkenne ich die Leere, die diese junge Frau offensichtlich umgibt. Diese Katze ist anscheinend ihr einziges Gegenüber mit der sie ihre Freude und ihr
Leid teilen kann. Und dieses Tier wird wider seine eigene Natur in eine Rolle gedrängt, die diese Katze gar nicht ausfüllen kann. Geliebt und umsorgt, gehegt und
getätschelt als Lückenfüller für eine große Leere in einem noch so jungen Leben.
Ich habe das Geldstück der jungen Frau aufgesammelt, habe ihr freundlich zugelächelt.... und bin dann doch zunächst recht nachdenklich weitergezogen. Aber
nach einer weiteren abgespielten Notenrolle war dann doch meine Melancholie wieder verflogen. Kann man denn den Leuten einen melancholischen
Leierkastenmann zumuten?
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Im Erdgeschoß des Hochhauses in der Trabantenstadt stand ein Mann, vermutlich asiatischer Herkunft auf dem Balkon. Nehmen wir einmal an, es war ein
Vietnamese. Als er mich ankommen sah, lachte er mir freundlich entgegen. Sogleich holte er seine ganze Familie, Frau und drei Kinder auf den Balkon. Auf mich
weisend sagte er etwas zu ihnen, schaute wieder auf mich und unterhielt sich freudestrahlend mit seiner Familie. Als ich mein Lied geendet hatte, winkte er mich
zu sich an die Balkonbrüstung und reichte mir ein Fünfmarkstück. Dabei sagte er in fast akzentfreiem Deutsch zu mir: „Mein Vater macht bei uns zu hause auch
Straßenmusik.“
Während ich dann vor der aufgereihten Familie auf dem Balkon noch einige Lieder spielte, dachte ich daran, daß ich ihm hier ganz ahnungslos als Berliner
Leierkastenmann wohl auf eine ganz unvermutete Weise ein Stück seiner fernen Heimat nahegebracht habe.
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Ich hatte bereits „Feierabend“ gemacht. Schließlich war der abendliche Zeitpunkt, zu dem ich gemäß meiner Sondererlaubnis das Drehorgelspiel einzustellen
hatte schon um einiges überschritten. Durch das ziellose umherziehen mit der Orgel durch die Straßen hatte ich etwas die Orientierung verloren und suchte (wie
so oft) wieder einmal mein Auto, um die Orgel wieder zu verladen und nach hause fahren zu können.
„Hallo, -- hallo....,“ hörte ich es hinter mir rufen. Und mit: „waren sie nicht eben in der Brigittenstraße?“ kam mir eine Frau nachgelaufen. -- „Vielleicht hast du
etwas verloren,“ dachte ich mir, und ließ den Blick über das Orgelzubehör und mein Kostüm streifen.
Aber sie reichte mir einige Geldstücke.
„Sie waren wunderbar!“ sagte sie mir begeistert mit einem rollenden „R“ im Akzent, als stünde Marika Röck persönlich vor mir.
„Es hat mir sehr gefallen, sie waren wunderbar,“ wiederholte sie noch einmal mit der gleichen flammenden Begeisterung in ihrem faszinierenden, fremden Akzent.
Doch schon aufgrund ihrer Figur konnte es nicht der beineschwingende Wirbelwind gewesen sein, von der mein Vater immer schwärmte. -
Doch schmeicheln wir ihr hier an dieser Stelle, und nehmen an, daß sie das den Ungarinnen nachgesagte legendäre „Paprika im Blut“ hatte.
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Meine Orgel hatte eine Panne. Sie hatte im wahrsten sinne des Wortes „ein Rad ab“.
„Nun ja,“ dachte ich mir, „mußt ja sowieso gleich Schluß machen,“ denn die abendliche Schlußzeit der Sondergenehmigung stand kurz bevor.
Und während ich noch an der Radachse probierte, ob es nicht doch noch ohne Werkzeug auf der Straße zu reparieren sei (schließlich mußte ich noch zum Auto
zurück), stand eine junge Frau mit einem kleinen Jungen neben mir und wartete, daß ich doch noch einmal spielen würde.
„Schade,“ sagte sie dann, als ich mich zum Rückweg entschlossen hatte, „er hatte sich so sehr darauf gefreut.“ Dabei wies sie auf den Jungen. Sie erzählte mir,
daß sie mich beide in der Wohnung auf dem Nachbarhof gehört hatten, und dann hielt es den Jungen nicht mehr, er wollte unbedingt zum Leierkasten. Und nun
waren sie beide hier, und ich beendete mein Spielen.
Klar, daß ich aufgrund dieser Geschichte nun nicht einfach aufhören konnte. Diesem Jungen mußte ich einfach den Leierkasten noch einmal vorführen.
Vorsichtigst bugsierte ich den Wagen auf seinen nunmehr noch verbliebenen drei Rädern durch die Toreinfahrt des nächsten Hinterhofes.
Staunend stand der Junge neben dem Leierkasten und schaute oben in das Spielwerk hinein. Seine Mutter war in die Wohnung zurückgegangen, und stand mit
regungsloser Miene auf dem kleinen Balkon im Erdgeschoß.
Übersprudelnd vor Freude rief ihr der kleine Junge seine neuesten technischen Einsichten über diesen Musikautomaten zu, die sie mit interessiertem
Sachverstand beantwortete oder ihm auch selbst Fragen stellte.
Zwischen diesen Fragen und Antworten stehend fiel mir der erschreckende Unterschied dieser beiden Menschen auf. Hier der überschwengliche, ausgelassene
kleine Junge, dort die erschreckend beklommene Mutter.
Mit einigen Sätzen über die Orgel versuchte ich mich in das Mutter - Kind Gespräch einzudrängen. Ich erzählte von der Freude, die ich vielen Menschen damit
bringe und von der Freude, die ich dabei selbst empfinde. Ich versuchte ihr ein Lächeln abzuringen, wenigstens ihre Miene sollte sich en wenig aufhellen. Aber
nichts dergleichen gelang mir. Selbst als ich mehr und länger als üblich dort gespielt hatte, konnte ich keine positive Wirkung im Gesicht dieser Frau erkennen.
Es war in meiner langjährigen Drehorgelmann-Laufbahn bisher der einzigste Moment gewesen, bei dem ich kein frohes Gesicht in meinen Zuhörern
zurückgelassen habe. Wie tief verhärmt und enttäuscht war diese Frau wohl gewesen?
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Auf einem Balkon stand eine Frau. „Nun kommt doch mal,“ rief sie hinter sich in die geöffnete Balkontür.
Im Dunkel des dahinterliegenden Zimmers sah ich zwei Schatten vorüberhuschen. „Na los, werft es hinaus,“ munterte die Frau die beiden „Schatten“ auf, und
wickelte etwas für den Drehorgelmann ein. „Habt euch nicht so albern,“ rief sie in das Zimmer.
„Die schämen sich,“ meinte sie nun achselhebend zu mir.
„Was meinen sie wie mir sein müßte! Ich bin es ja eigentlich, der hier im Rampenlicht steht. Ich bin hier der Clown für alle anderen. Aber ich habe mich bereits
daran gewöhnt, und im Grunde genommen macht es mir ja auch Spaß,“ sagte ich, als ich mein Lied geendet hatte.
Und damit waren wir ins Gespräch gekommen, plauderten über Mut und nicht Mut, sie erzählte über den Drehorgelmann aus ihrer Kindheit und und....
Nach dem zweiten Lied trauten sich die „Schatten“, die mich doch die ganze Zeit über neugierig beobachtet hatten, doch noch auf den Balkon. Es waren zwei
heranwachsende Teenager. Die beiden Mädchen drückten sich feixend an der hintersten Wand des Balkons entlang. Und als ich dann am Ende „Paloma
Blancka“ spielte, eines der Lieder, die zu dieser Zeit gerade „in“ waren, waren damit diese beiden schüchternen doch noch Teenager „aufgetaut“. Wir wechselten
sogar noch einige Worte. Aber das Geldpäckchen hatte mir ihre Mutter zuvor schon zugeworfen.